07.05.2020 – Schülerin, Q1: „Es begann mit Angst“

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Ich spaziere einen Waldpfad entlang. Um mich herum überall tausende von Grüntönen, die fließend ineinander übergehen und sich verspielt der Sonne entgegen winden. Ich schließe die Augen. Schwarz. Nichts. Nur die beruhigende Stimme des Waldes, das Vogelgezwitscher und das leise Rascheln der Blätter von Bäumen und Büschen erinnern mich daran, wo ich mich befinde. Mir gehen viele verschiedene Gerüche durch die Nase. Das klebrige Harz der Bäume, die Frische der Wildblumen und dieser Geruch, den der Wald ausströmt wenn es am Tag zuvor geregnet hat. Ergriffen von alldem, spaziere ich durch den Wald. Alleine.

Und obwohl die betörende Schönheit der natürlichen Idylle des Waldes mich mit all meinen Sinnen einfängt und verzaubert, empfinde ich Nichts. Mein Geist, meine Seele, mein Herz und mein Kopf sind leer. Totenstille. Ein beängstigendes Gefühl. Aber selbst dieses Gefühl empfinde ich nicht.

Ich gehe den Waldpfad entlang und wenn ich mich so umsehe, habe ich das Gefühl, dass alles um mich herum sich bewegt und weiterlebt, unbeschwert und voller Lebensfreude. Und ich? Es kommt mir so vor, als würden ich und der Pfad, auf dem ich gehe, anhalten. Als hätte jemand eine Stoppuhr gedrückt und würde mich somit daran hindern genauso weiter zu leben wie die Natur des Waldes. Ich befinde mich in einer metaphorischen Glaskugel, um mich herum geht alles weiter seinen Weg, nimmt alles weiter seinen Lauf – und ich? Ich sitze in dieser Glaskugel, unfähig zu empfinden. Leer. Leblos.

Wieso das so ist? Ich werde es euch erzählen:

Es begann mit Angst.
Ich hatte ganz zu Beginn dieser Ausnahmesituation einfach nur schreckliche Angst. Blanke, kalte, nackte Angst. Die Art von Angst, die sich wie eine Zwangsjacke um deinen Körper legt und dich so zusammendrückt, dass du dich kaum bewegen kannst, du kaum atmen kannst, du für jeden Atemzug deine ganze Kraft und Energie brauchst, wo du kurz davor bist zu ersticken und dieses Gefühl aber kein Ende nimmt, sondern endlos und ewig andauernd erscheint. Die Art von Angst, die deinen ganzen Alltag bestimmt und dich verfolgt, auf Schritt und Tritt, egal, wohin du gehst. Sie ist wie ein Schatten, immer ganz nah bei dir, nur weil du den Schatten im Dunkeln nicht siehst, heißt es nicht, dass er nicht da ist. Er ist ein Teil von dir.
Diese Art von Angst meine ich.

Und dann kam die Panik, welche relativ schnell in Tränen endete. Es ist schwer zu beschreiben was ich fühlte, es ist so komplex und vielschichtig. Manchmal saß ich auf dem Bett und fing aus dem Nichts an zu weinen. Naja, weinen kann man das nicht direkt nennen. Ich saß da, regungslos, verzog keine Miene und die heißen Tränen kullerten mein Gesicht hinunter. Kein Lippenbeben, kein Schluchzen, keine traurigen Stirnfalten, kein emotionaler Zusammenbruch.

Dann, an manchen Abenden, wenn ich mit meinen Eltern im Wohnzimmer saß und ich dann genau in diesen Zustand kam, habe ich Sätze gehört wie: „Stell dich nich so an“, „Man kann auch alles überdramatisieren“, „Komm mal wieder klar“, „Jetzt reiß dich mal zusammen, verdammt“. Wut kam in mir auf. Ich war wütend darüber, dass sie nicht verstehen wollten, dass es mir schlecht ging, dass nicht alles einfach so an mir vorbei ging, wie ich es vielleicht nach außen hin zeigte und wütend darauf, dass ich für einen einzigen, klitzekleinen Moment der Schwäche sofort bestraft wurde. Also setzte ich mein, über die Jahre gut einstudiertes, Lächeln auf und antwortete: „Du hast Recht, mir geht’s gut, ich werde mir einen Tee machen“. Kaum kam ich mit Tee in meinem Zimmer an, brach ich auf dem Fußboden zusammen und weinte bitterlich, krallte mich in dem Holz meines Bettes fest, schluchzte und weinte so laut, in der Hoffnung, sie würden mich hören: Mama, Papa, bitte hört doch, hört doch, dass ich weine, hört doch, dass ich unter dem Druck zusammenbreche, hört doch, dass ich keine Luft mehr bekomme, dass es mich auffrisst und ich jede verfluchte Sekunde des Tages innerlich so laut und markerschütternd aufschreie, aber nicht der kleinste Laut über meine Lippen kommt. Man, ich schaff das nicht mehr alleine…..

Nächster Tag. Dieselben Abläufe, dieselben Leute, dieselben Orte, dieselbe Routine, ich werde noch wahnsinnig. Und dann immer dieselben Fragen und keiner bemerkte, was mit mir los war. Und da war ich nun, auf dem Waldpfad, in meiner Glaskugel, wie alles um mich herum sich weiterdrehte, alles Leben weiterging und ich auf der Stelle stand und weder vor noch zurück kam. Außen alle Gefühle und Emotionen, die ich vorher zugelassen hatte und innen: Nichts.

Und alles eine Folge davon, dass man mich dafür verurteilte, was ich fühlte und mir vorschrieb, was ich empfinden darf und was nicht.

Nennt es Luxusprobleme, nennt es Überdramatisierung, nennt es Hineinsteigern, nennt es manische Depression, nennt es Meckern auf hohem Niveau, nennt es wie ihr wollt. Aber nehmt euch nicht das Recht heraus, mir vorzuschreiben, wie ich mich zu fühlen habe. Denn jedes meiner Gefühle ist richtig, jedes meiner Gefühle ist wahrhaftig und jedes meiner Gefühle ist so, wie ich die Welt sehe, wahrnehme und empfinde. Ich habe das Recht darauf, mich so zu fühlen wie ich will. Ich darf meinen emotionalen Zustand nur nicht meine Handlungen bestimmen lassen. Aber selbst, wenn dieser Fall mal eintritt, indem meine Emotionen mein Handeln bestimmen, dann ist das ok, denn ich bin ein Mensch und genau solche „Ausrutscher“ machen mich menschlich. Nicht perfekt zu sein ist menschlich und macht mich zu dem, was ich heute bin.

 

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