19.04.2020 – Lehrer: „Mein Corona- Tagebuch“

[wp_ulike]  Lehrer: Mein Corona-Tagebuch

 

Als erstes stellen sich da uralte Schüler-Ängste ein: Ein Thema, bei dem der Deutschlehrer sich sicherlich sehr motivierende Gedanken gemacht hatte, mir aber partout nichts einfallen wollte, wovon das angekaute Füllhalterende bis heute Zeugnis ablegt. Ergebnis: Thema verfehlt.

Dann fällt mir eine alte Kladde aus meiner Schülerzeit ein. Moment! Den heutigen Weltbenutzern via Mini-Flachbildschirm muss ich vielleicht doch erst noch dieses seinerzeit für zeitlos gehaltene Kommunikationsmittel ein wenig erklären: Ein etwa einen halben bis einen Zentimeter dicker Papierstapel der Grösse DIN A 5 ist zwischen zwei kräftige, harte Pappdeckel gepackt, die an einer Seite gebunden sind. Die Pappdeckel sollten wohl „Eselsohren“ verhindern, eine geradezu schändliche Verunstaltung der Blattecken, die schulischen Materialien nur allzu oft unterläuft. Zudem tragen Kladden zur Haltbarkeit schriftlicher Erinnerungen bei, was ihrer büchergleichen Stell- bzw. Stapeleigenschaft zu verdanken ist. In der Regel waren sie aussen schwarz, mit einer anderen Farbe gemasert. Ihr Volumen entsprach circa drei Smartphones samt Hüllen, nebeneinander gelegt.

Die besagte Kladde kommt mir in meinem Zimmer, dem man nur allzu deutlich anmerkt, dass es nichts vergisst, nur höchst selten zu Gesicht. Aber durch das mir gestellte Thema ist sie mir deshalb in Erinnerung gekommen, weil ich ihr Etikett als Schüler – wohl mit guten Vorsätzen – beschriftet hatte: Über meinem Namen steht dort das Wort „Tagebuch“. Es muss allerdings bei den guten Vorsätzen geblieben sein; denn ausser eingetragenen Fussball-Ergebnissen von damals ist dort nichts zu finden. So wird denn klar: Hier versucht sich jemand, der als Tagebuchschreiber bereits nachweislich gescheitert ist.

 

Heute am Weissen Sonntag, traurig mit den Erstkommunionkindern, aber auch mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden und auch schon mit den Muslimen vor dem Ramadan, denen allen nun die grossartigen Erlebnisse der Gemeinschaft versagt bleiben, fällt mein Blick ziemlich weit zurück. In meinem Winter-Anorak habe ich in der Tasche meine letzte S-Bahn-Viererkarte gefunden – mit der letzten Abstempelung am 20. Februar 2020. Das war die Zeit, als das Wort „Risikogruppe“ aufkam und meine Frau mir geraten hat, das dichte Gedränge in Nahverkehrszügen besser zu meiden. Seitdem bin ich nur noch mit dem Auto zur Schule gekommen, selbstverständlich mit ganz schlechtem Umweltgewissen. Ob ich die zwei noch freien Felder der Viererkarte je benutzen werde? Ich bin nicht sicher. Vielleicht wird die Karte ja ein Corona-Krisen-Dokument – wie unsere letzte Kino-Eintrittskarte.

Ich hoffe, es ist anderen nicht als unhöflich aufgefallen. Aber seit diesem Tag habe ich ganz deutlich meinen Anderthalb-Meter-Radius taxiert und selbst in Gesprächen zu zweit eine Haltung eingeübt, als ob wir uns zu dritt unterhielten, also mit Blick immer ein bisschen am Gesprächspartner vorbei.

 

Trotz Vorahnungen hat es uns dann am „Unglückstag“, Freitag, dem 13. nachmittags erwischt: Schule aus, keine Klausuren usw., wenn möglich „digitaler Unterricht“. Am Montag noch ein letzter Besuch im gähnend leeren Lehrerzimmer und vor allem herzzerreissender stundenlanger Abschied von meinem geliebten Fotokopierer, um fürs erste gerüstet zu sein.

 

Angeregt durch den Rundfunk haben wir in unserem Haus Urlaubslandschaften eingerichtet: Vom „Wohnzim-Meer“ geht es über den „Flursteig“ am Tage mehrfach in Ausflügen nach „Computanien“, das bei uns in „Waschküchistan“ liegt. Bei diesen Ausflügen war der IService des jungen Personals von durchaus sehr unterschiedlicher Qualität: Völlig unerwartet erstklassige und prompte Bedienung, aber eben leider auch kalter Kaffee und dünne Suppe, ganz abgesehen von nicht ausgelieferten Bestellungen. Der „Dienstweg“ war der am besten ausgewiesene in diesen Corona-Landschaften, was vor allem die kollegialen und mittleren Höhen der „erweiterten Leitungsebene“ betrifft, wohingegen in den höchsten Spitzen, also „Mt. MSB“, äusserst dünne Luft herrschte.

 

Die allgemeine Lernfähigkeit war als zögerlich zu vernehmen. Erst allmählich setzte sich durch, dass man sich besser vorsorglich ein bisschen aus dem Weg geht. Umso schöner das Erlebnis, wenn man das mit einem freundlichen Blick oder netten Wort verbindet. So war es in der überwiegenden Mehrheit schon beeindruckend, zu erleben, wie – nach etwa einer Woche „Shut-down“ – die Minderheit derer zu schmelzen begann, die die soziale Distanz derer vermissen, die ihnen bei der Jagd nach Nudeln oder Toilettenpapier im Weg stehen bzw. vor der Supermarktkasse nicht schnell genug aufrücken. Ich habe mich da gefragt, woher die wissen, was ich nicht weiss: ob bzw. dass ich nicht infiziert bin.

 

Seit dem 2. April sind wir dank meiner nähenden Schwester mit Mund-Nase-Schutz ausgestattet für die Einsätze beim unvermeidbaren Nahkampf in Läden und auf dem Markt. Für diese Situationen finde ich diesen Schutz absolut wichtig. Ihn permanent an der frischen Luft zu tragen, halte ich für überflüssig und wegen der baldigen Durchfeuchtung auch für kontraproduktiv. Mich verwundert nur die konsequente offizielle Zurückhaltung, wenn nicht Abwehr dieses Minimalschutzes – selbst nach mehr als zwei Monaten Corona-Krise und nach den guten Erfahrungen in Südkorea.

 

Wenn es nur zum Einkauf und zu unserem allnächtlichen strammen Marsch durchs Viertel nach draussen geht, um wenigstens einmal am Tag in Bewegung zu sein und ein bisschen ins Schwitzen zu kommen, hilft zu Hause Musik. Über Saschas Einspielung habe ich mich sehr gefreut. Auch das Corona-Lied von Sebel, vor allem von internationalen Künstlern per Video begleitet, ist mir unter die Haut gegangen. Und wenn ich an die Aktionen und Reaktionen höchst verantwortlicher Politiker wie Xi (vertuschen), Chamenei (Hauptsache pilgern), Erdogan (beten), Trump (anderen Schuld zuweisen) in diesen Zeiten denke, in denen „das beste Gesundheitssystem der Welt“ der stärksten Volkswirtschaft der Welt derzeit täglich rund 2000 Corona-Tote überwiegend aus den nicht-weissen Amerikanern zustande bringt, dann kommt mir immer wieder das alte Lied von Phil F. Sloan, gesungen von Barry McGuire aus dem Jahr 1965, „Eve of destruction“ in den Sinn, das leider viel zu wenig beachtet und viel zu selten gespielt wird. Zur Klima- und zur Corona-Krise bedürfte es nur weniger textlicher Ergänzungen.

 

In der hilflosen Dankbarkeit gegenüber all denen, die sich im Gesundheits- und Pflegebereich bis über die physische und psychische Erschöpfung hinaus in diesen Zeiten einsetzen, ja als Folge neoliberaler Sparpolitik und nicht ausgeführter, vor Jahren bereits beschlossener Pandemie-Vorsorgepläne regelrecht wie „Kanonenfutter“ aufopfern, während wir uns im „ewigen Sonntag“ bequem eingerichtet haben, bleibt uns nur Klatschen und Singen vom Balkon oder Fenster. Die Idee mit den Liedern am Sonntag um 18 Uhr fand ich grossartig. Traurig war nur, dass ich beim ersten Versuch mit „You never walk alone“ noch gescheitert bin. Bei „Freude schöner Götterfunken“ am Palmsonntag bin ich einsam mit meinem Keyboard auf dem Balkon fast erfroren. Das „Steigerlied“ – wie es sich zu Ostern gehört „vom Eise befreit“ – war dagegen ein voller Nachbarschaftserfolg: Nach Wahrnehmung erster Töne aus der Ferne haben wir mit der zweiten Strophe kraftvoll eingesetzt und, von weiteren Nachbarn begleitet, das Lied zu Ende gesungen. Da gab es sogar Beifall aus dem angrenzenden Krankenhauspark.

 

Wenn dieser Tage bei uns vom Neustart der Wirtschaft die Rede ist, wird immer wieder der Zusammenbruch der globalen Lieferketten als Problem für uns angesprochen. Dass damit in Staaten des Südens, der sogenannten Dritten Welt, massenweise Existenzen vom einen auf den anderen Tag weggebrochen sind, die keine prall gefüllte Staatskasse oder Notenbank abfedert, dringt bei uns ebenso wenig durch wie die Vorstellung, wie dort in dichtest besiedelten Gebieten ohne leistungsstarkes Gesundheitswesen eine Pandemie-Abwehr wie „social distancing“ überhaupt möglich sein könnte. Ich glaube, gerade hier sind unseren reichen Taschen mehr als gefragt.

 

Ich möchte mein Corona-Tagebuch bis zum Weissen Sonntag mit Hans Joachim „John“ Schellnhuber vorläufig abschliessen: „… Im Kampf gegen Covid-19 erleben wir tatsächlich einen Honigmond der Solidarität. Die Menschen sind bereit, für eine überzeugend erklärte Politik persönliche Opfer zu bringen. Diese Bereitschaft hängt aber kritisch mit der fest erwarteten Befristung des Ausnahmezustands zusammen. … Beim Klima hingegen ist beharrliche Empathie mit jungen, ja noch ungeborenen Menschen über Jahrzehnte hinweg erforderlich. Mit anderen Worten, ein beispielloses zivilisatorisches Meisterstück. Die Lehren aus der Corona-Krise sollten uns trotzdem dazu ermutigen, das Meisterstück zu wagen. Zumal die kurzfristigen Wohlstandsverluste gering wären und mittelfristig bereits in Gewinne umschlagen würden, wie Dutzende von Studien aufzeigen. …“

(John SCHELLNHUBER: Die Seuche im Anthropozän. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.4.2020, S. 9)

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